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Zwischen den zu Müll verdammten Gütern unseres ökonomischen Systems sitzt ein Kind erleuchtet durch ein synthetisch anmutendes Licht auf alten Autoreifen. Ein Koffer steht offen und gibt seinen Inhalt in monochromen Schwarz und Weiß preis. Jugendliche stehen lethargisch feiernd im gleißenden Licht des Blitzes, während andere von der Finsternis verschlungen werden. Dies sind drei Beispiele des umfangreichen Werks des Fotografen Jamal Cazaré (*1986). Der in Berlin und Leipzig arbeitende Künstler, der Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig studierte, konzentriert sich in seiner Arbeit stark auf die Fotografie. 

Dunkelheit und Licht sind zwei prägende Elemente, die in Cazarés fotografischen Werk, welches durch performative und installative Arbeiten ergänzt wird, koexistieren, sich gegenseitig bedingen und kontrastieren. Cazarés fotografische Machart umfasst sowohl inszenierte als auch authentische Fotografie, wobei jede Arbeit typische Merkmale der konträren Machart in sich trägt. So lässt das inszenierte Foto Kolonie (2021) vermuten, man betrachte einen Schnappschuss, während das authentische Bild Houte Cotüte (2021) klassische Kompositionsmerkmale aufweist, die an die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts erinnern. Sein Werk vermischt Fakten und Fiktion und verdichtet sie zu einer intensiven subjektiven Sicht des Künstlers auf prägnante gesellschaftspolitische Entwicklungen unserer Zeit.

Cazaré erfasst in seinem Werk die Gegenwart und nutzt die Kamera als feinen Sensor für das Sichtbarmachen sozialer Strukturen und Entwicklungen. Ein beispielhaftes Werk dafür ist die Inszenierung Kolonie (2021).
Aus einer erhabenen Position blickt der Betrachter auf ein uns mit dem Rücken zugewandtes Kind, das von Müll und anderen ihrer ursprünglichen Funktion entzogenen Objekten umgeben ist.
Cazaré löst, nicht zuletzt durch das bühnenartige, künstliche Licht, ein Narrativ aus, dessen Verlauf jeder Betrachter individuell bestimmt. Er zeigt den fruchtbaren Moment der Entscheidung. In welche Richtung wird das Kind gehen? Wird es dort verweilen und mit der Umgebung interagieren oder das Bild verlassen? Durch die erwachsene, kontrollierende Perspektive, die Cazaré einnimmt, verspürt der Betrachter den Drang, die Gesten des Kindes deuten zu wollen. Ist es Demut, Trauer, Wut, Hoffnung, Einsamkeit? Wir wissen es nicht. Cazaré macht jedoch deutlich, dass die Probleme unserer Zeit uns alle angehen und unsere Entscheidungen die Zukunft bedingen und die Kraft haben, eine nachhaltige Entwicklung zu blockieren.
Dabei verzichtet er auf jegliches Pathos und lässt in seinen schwermütig wirkenden Bildern Hoffnung aufkommen, indem er ein Kind, als Sinnbild der Zukunft, zu seinem Protagonisten macht. Kolonie ist eine Bestandsaufnahme der Gegenwart und lässt sich auch im Sinne des ursprünglichen Begriffes des Titels lesen: eine erste Niederlassung, ein Neubeginn, ein Anfang, eine erste Sesshaftwerdung und vor allem die Möglichkeit, das Kommende zu gestalten.

Der Aktenkoffer als Attribut des modernen, globalen Kapitalismus wird in der skulpturalen Objektfotografie Tunnel (2021), das in klar voneinander getrennten monochromen schwarzen und weißen Flächen vorkommt, zur mystischen Truhe, die ihr wertvolles Gut offenbart: eine weiße Banane.
Tunnel, eine Farbfotografie, die durch ihr reduziertes Kolorit an eine Schwarzweißfotografie erinnert, lässt sich als Allegorie des heutigen globalen Superkapitalismus lesen, der vor allem in der westlichen Welt zu einer Art neuen Religion geworden ist. Die verfremdete Banane ist nur noch stellvertretende Hülle für etwas und hat ihren natürlichen Ursprung verloren. Sie steht für ein kapitalistische Gut, das zum Symbol komplexer, sozialer Systeme unserer frühestens Vorfahren, der Affen, geworden ist, die bis heute mit ihren Gütern Handel betreiben und sich so Vorherrschaften auf Kosten anderer erwirtschaften. Tunnel wirft Fragen über einen möglichen, natürlichen Ursprung kapitalistischer Unternehmungen sowie einen damit einhergehenden natürlichen Trieb zu ökonomisch orientierten Handlungen auf. Hinzu kommt, dass die krumme Banane an ein perfides Lächeln erinnert. Dieses Lächeln bleibt jedoch in Tunnel zunächst gesichtslos. Cazarés Arbeit, dessen kontrastreiche Darstellung an die Chiaroscuromalerei des 16. Und 17. Jahrhunderts erinnert, zeigt trotz der klaren Kontrastierung von hellen und dunklen, weißen und schwarzen Flächen kein klares Gut-Böse-Szenario. In seinen Arbeiten scheint das Gute immer Teil des Bösen und umgekehrt zu sein. So spiegelt sich das Gesicht des Betrachters in der in Hochglanz gedruckten Arbeit in der Dunkelheit des Koffers und das Grinsen der Banane schmückt schlagartig das eigene Gesicht.

In der authentischen Fotografie Haut Coutüte (2021) macht Cazaré für einen Moment das Verborgene sichtbar. Es zeigt eine Ansammlung Jugendlicher, die sich in einem Leipziger Park zum Feiern getroffen haben. Cazaré bringt hier Licht in die Dunkelheit. Nur ein Teil der Feiernden ist klar und hell durch das Blitzlicht beleuchtet, während andere von der schwarzen Masse der Nacht scheinbar verschluckt werden.
Indem Cazaré zunächst unsichtbar im Schutz der Dunkelheit agierte, wurden die Jugendlichen durch das Auslösen des Blitzes überrascht. Dadurch friert er das bis dahin unbeobachtete Handeln der Jugendliche ein. Das Bild erhält einen dokumentarischen Charakter, indem es ein faktisches Porträt unserer gegenwärtigen Jugend abbildet. Die Vorstellung einer ausgelassenen Feier scheint den lethargisch auf der grünen Wiese stehenden Jugendlichen nicht zu entsprechen. Das Bild strahlt Ruhe, Apathie und Distanz bei gleichzeitiger Nähe aus. Cazaré hält die Zukunft unserer Gesellschaft fest, zeigt das Bild sich betäubender Jugendlicher, das von Lethargie und Ohnmacht, Schwermut und Melancholie geprägt ist.
Es ist außerdem ein Blick in ein auf die Dauer der Veranstaltung beschränktes soziales Biotop, indem er die Koexistenz verschiedener sozialer Milieus dokumentiert: ein älterer Mann, der die leeren Pfandflaschen der Feiernden sammelt, profitiert von der Ansammlung junger Menschen.

Cazaré durchbricht das Vakuum der Dunkelheit und provoziert die Auseinandersetzung mit sozialen, ökonomischen und ökologischen Themen. Während er in seinen authentischen Fotografien soziale Konstrukte erfasst, greift er in seinen Inszenierungen Vorhandenes auf und ergänzt es mit fiktiven Elementen und erschafft in seinen performativen und installativen Arbeiten von Grund auf neue Realitäten und Formsprachen, die in der Fotografie Ausdruck finden.

Text von: Leo Wedepohl

Tunnel, C-Print, 45 x 60 cm